In welcher Welt leben wir eigentlich

Veröffentlicht auf von lauti

Tagesspiegel-Leserkommentare

von Friedrich Lautemann

 

von   friedrich.lautemann | 20.11.2008 15:32:11 Uhr

 

Weltverderber Zinseszins

 

Die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien CDU und SPD - Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel - scheinen hilflos gegenüber den finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen. Wieso "scheinen"? Niemand dem dies so erscheint braucht nach Wundern zu suchen, denn es gibt eine einfache Erklärung: sie sind es. Es hat nicht nur den Anschein. So ist es. Sie sind "hilflos". Sie scheinen die eigentliche Ursache der "finanz- und wirtschaftspolitischen Problemen" nicht zur Kenntnis zu nehmen: die Logik des Geldes.

Wir erleben eine, vielleicht die schwerste, vielleicht auch die letzte,  Krise des Kapitalismus, welche die schönfärberisch so genannte soziale Marktwirtschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Möglicherweise wird sie ihr den Todesstoß versetzen; nicht überall, aber an vielen Orten der "freien" Welt.

 

Das Betrugssystem des Kapitalismus

 

Die Ursache der Entwicklung, dass die Reichen immer reicher und immer mehr Menschen  verarmen, die Armen immer ärmer und zahlreicher werden, liegt  darin, dass sich gebunkertes Geld über den teuflischen Mechanismus des Zinseszins-Ertrages vermehrt - ohne Leistung und volkswirtschaftlichen Nutzen.  Gier, Dummheit und politische Gleichgültigkeit  lassen seit Nixon das simple Wissen außer Betracht, dass Geld als Dauerwert für sich für den Tausch von Waren und Dienstleistungen entstanden ist. Heute drucken die Notenbanken Noten ohne Deckung an bleibende Werte wie Gold und anderes Metall, aus dem früher die Geldmünzen hergestellt wurden. Ein Beispiel, um die die Welt verderbende Sprengkraft dieses Sachverhalts zu veranschaulichen, das des berühmten Josephs-Pfennigs. Ein Pfennig vor 2000 Jahren mit 5% Zinsen angelegt, hätte heute zu einem Endkapital von nicht einmal einem Euro geführt, wenn die Zinsen selbst nicht weiter verzinst worden wären. Werden die Zinsen jedoch dem Kapital stets zugeschlagen und  mitverzinst, dann ergibt sich nach 2.000 Jahren ein Vermögen, das dem Wert von  268 Milliarden Erdkugeln aus purem Gold entspricht.

 

Weder die Kanzlerin noch ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier sind auf "diese Zeiten kompliziertester wirtschaftspolitischer Fragen im Inland wirklich vorbereitet" - das ist wohl wahr. Fast alle Missstände der Welt beruhen auf der  Logik des Geldes: Zins und Zinseszins machen ohne Arbeit reich. Billionenvermögen sind sozialen Notwendigkeiten durch Blockierung entzogen - weltweit. Das System hat den Endpunkt erreicht, wenn die Schulden, die stets den Guthaben entsprechen, nicht mehr erwirtschaftet werden, was die den arbeitenden Menschen von der Politik zugeteilte Aufgabe ist.

 

Das Betrugsystem des Kapitalismus funktioniert stichwortartig nach folgenden Regeln:

 

1. Aus Kapital noch mehr Kapital machen.

2. Die Arbeitenden zahlen grundsätzlich die Zeche; sie haben zu erwirtschaften, was andere ab- und verzocken.

3. Fremde Arbeit macht reich.

4. Irgendwann ist Schluss mit Geldvermehrung und "alle" beginnen wieder bei null. Bester Zeitpunkt: nach großen Kriegen. Die Pleiten und unvorstellbaren Verluste können wunderbar ideologisch begründet werden (z. B. sie sagen Freiheit und meinen Erdöl).

 

Der Wachstumswahn - eine weltweite  Geisteskrankheit - beruht auf anderen Mechanismen: dem des modernen Sklaventums (Leiharbeitsverhältnisse, Kinderarbeit, Ein-Euro-Jobs) nach dem Motto Geld regiert die Welt; dem eines verlogenen Arbeitsideals, das unterscheidet zwischen 

 

1. notwendiger Arbeit

2. bereichernder Arbeit und

3. überflüssiger Arbeit (die ohne Bezahlung und gesellschaftliche Anerkennung, also die Arbeit der Arbeitslosen in der "Randgesellschaft" wie SPD-Sarrazin das nennt)

 

Zeit ist Geld haben wir oft gehört; wie wahr, wie wahr, denkt man an das enorme unvorstellbare  Wachstum unseres Joseph-Pfennigs.

 

Die Geldgesellschaft braucht Effizienz. Die durch Millionengehälter und Milliarden-Gewinne Demotivierten sollen bis zu ihrem Rauswurf arbeiten wie Maschinen, mobil sein wie die Vögel und ja nicht glauben, dass die Rente später reicht oder nur sicher ist - im Gegensatz zur Riesterente, der zynischsten Agenda seit Schröder zu Lasten der Arbeitenden und zu Gunsten der Versicherungswirtschaft.

 

 

Wichtigtuerische Jongleure

 

An das Jonglieren mit hohen Zahlen haben wir uns fast schon gewöhnt - lesen wir. Wirklich? Otto Normalverbraucher, zu denen heute ja Leute mit 1 Euro Jobs und Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen gehören, abgespeist mit Dumpinglöhnen und der Willkür von Cleverles, die  aus ihrer Arbeit schamlos Honig saugen, kann sich unter einer Milliarde oder gar 1000 Milliarden (eine Billion) nichts vorstellen. Er sieht aber, wie die Wichtigtuer in der Politik sie hin und herschieben wie saures Bier und wendet sich ab.  Der Bund wird sich im kommenden Jahr voraussichtlich mit bis zu 20 Milliarden Euro neu verschulden - das sind doch Peanuts. Die kann man durch Einsparungen an Sozialleistungen locker "gegen finanzieren".  Eigentlich sollten es gerade mal 10,5 Milliarden sein, weshalb die Regierung ihr historisches Ziel, mit dem sie einmal angetreten sei, verfehlt habe. Was ist nun "historisch" daran? Übersetzte man historisch mit "geschichtlich", dann hat Fabian Leber sicher Recht, ohne etwas  gesagt zu haben. Die menschliche Dummheit ist historisch, beispielsweise. Von Sir Karl Popper (Die Feinde der offenen Gesellschaft)stammt der Satz, die Weltgeschichte sei die Geschichte eines jeden einzelnen Menschen. Aber das hat er vor langer Zeit geschrieben, das gilt nicht mehr. Schuld daran ist, glaubt man den Erklärungen der politischen "Eliten" oder fällt man auf ihr Augurenlächeln herein (das ist das Lächeln von Amtsgenossen in Erkenntnis unverdienten Ansehens) die "Globalisierung" - so, als ob der ungehemmte oder hemmungslose  Profitwahn eine große Erfindung derjenigen sei, die öffentliche Meinung machen, ohne genau zu wissen, worum es sich handelt.   Den Wahnsinn der Verschwendung von Ressourcen an den Bedürfnissen  von Abermillionen bedürftiger Menschen stramm und fröhlich vorbei lernte er anders als wir heutigen "Zwangsglobalisierten" zum Glück nicht kennen. Die von ihrer Arbeit leben kennen anders als die Oben keine Krisen, an die sie sich "gewöhnen" müssten. Sie sind ihr täglich Kreuz.

 

 

Verraten und verkauft

 

Die Zeche begleichen wir – die Zwangsglobalisierten -  allerdings in einem anderen Sinn. Armut ist die Zeche, die uns die Gesellschaft präsentiert. Nicht nur materielle Armut; sie ist oft die einzige Form von Armut, die noch wahrgenommen wird. Ein bettelndes Kind kann man schwerlich übersehen, und ein betrunkenes Kind gehört zu dieser verzweifelten Spezies hoffnungsloser Mitglieder unserer Gesellschaft. Bildungsarmut und fehlende Herzensbildung  werden seltener beklagt. Aus dem Urteil "Die Zeche zahlen wir" - also die anderen, unschuldig Unbeteiligten, wird ein Schuh, wenn wir uns darauf verständigen könnten, dass "wir" nur die Zeche bezahlen, die wir selber gemacht haben. "Wüssten wir aber, dass wir alle schuldig sind, dann hätten wir gleich das Paradies auf Erden", sagte Fjodor Dostojewski einmal.  

 

Kinder, die sich betrinken, betrinken sich wie "Erwachsene" um zu vergessen. Vom Erleichterungstrinken zum  Komatrinken führt die verratenen und verkauften Kinder oft nur ein einziger Schluck. Sie - die jungen Opfer und jungen Schuldigwerdenden an sich selbst und der Gesellschaft - wissen nichts mit sich und der Welt anzufangen. Die einzige Unterhaltung, die sich ihnen bietet, sind schlechte Gewohnheiten, die ihre Handikaps vergrößern. Der Sinn des Lebens  besteht darin, sich möglichst gut, also seinen Begabungen und Fähigkeiten gemäß sozialverträglich zu unterhalten. Dabei spielt eine große Rolle, wem wir gefallen wollen. Ich höre den Aufschrei derjenigen, denen trotz (oder wegen) eines "normalen" (auch normal begüterten) Lebens nichts anderes einfällt als: denen geht es viel zu gut, man müsste sie ins Gefängnis stecken. Aber auch diese Zeche müssten wir wiederum alle begleichen. Die Sache ist also hoffnungslos?  Ein theoretisch nicht ganz. Würden wir uns täglich mit der Beseitigung himmelschreienden Unrechts befassen und ihre letzten Ursachen - die Lieblosigkeit und die Logik des Geldes - sehen und mehr Mitmenschlichkeit einfordern und ermöglichen, ließe sich manches ändern.  

 

Der Wahnsinn geht weiter

 

Rund 50.000 Mitarbeiter müssen bei der US-Bank Citigroup gehen - das heißt, sie werden von heute auf morgen rausgeschmissen. Der neoliberale Wahn hat sie wie Abermillionen andere auch zu Opfern gemacht. Nicht ihnen, den Opfern elitären und kriminellen Versagens, wird geholfen, sondern den Tätern.  Es verschlägt einem den Atem wenn man liest: -  auch das genüge nicht, um die Bank zu retten. Innerhalb kurzer Zeit müsse der Staat der "taumelnden Großbank" zum zweiten Mal mit 300 Milliarden Dollar "beispringen".

Niemand stellt die Frage, wer sich diese 600 Milliarden Dollar  in seine Taschen oder auf schottendichte geheime Konten  eingezahlt hat. Schulden entsprechen stets Guthaben. Diese simple Wahrheit bleibt bei der öffentlichen Debatte außen vor. Die Mächtigen machen den Schulterschluss. Die "Politik" springt den Banken willig bei, ohne diese Frage zu stellen: wer hat die Kokosnuss geklaut?

 

Die Eliten haben kein Interesse, die Menschen über die wahren Ursachen ihrer Lage wahrheitsgemäß  zu informieren.  Man muss es für möglich halten, dass die Politiker sich nicht dafür  interessieren, ihre Wählerklientel.   Sie interessieren sich für die Sicherheit ihrer eigenen reichlich bemessenen Renten und für die ihrer Sparkonten - und  für ihre Wiederwahl. Einem Publikum, das verstehen oder nur zur Kenntnis nehmen könnte, dass Banker Billionen von Dollars und Euros und Yens locker vom Hocker verbunkert haben, würde aufschreien, dass diese Eliten weiter machen dürfen wie bisher. Niemand lasse sich täuschen: Der "Mindestlohn" der Banker in den Chefetagen von lumpigen 500.000 Euro in Deutschland wird ihre Gier auf Abwege drängen wie Schwarzarbeiter in die Schattenwirtschaft. Denn, wie Einstein sagte: "Die menschliche Dummheit und das Universum sind unendlich. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher".

 

Der  Citigroup-Chef darf dagegen im Amt bleiben. Wie schön für ihn. Es genügt, dass zigtausende ihren Job verlieren. Schuld an dem Zusammenbruch der Banken ist – man lese und staune – die Finanzkrise.  Er hat das Schlamassel erst ein Jahr zu verantworten. Was ist schon ein Jahr für jemanden, der mit Milliarden jongliert. Jegliche Bonuszahlungen für das Management müssen in Zukunft der Regierung vorgelegt und von ihr genehmigt werden: Bonuszahlungen für Milliarden schweres Missmanagement.  Der Wahnsinn geht weiter.

 

 

von   friedrich.lautemann | 24.11.2008 14:35:46 Uhr

 

Der Realo

 

Sozialdemokrat sei Wolfgang Clement, Schröders Superminister (der die Leiharbeit, diese neoliberale Abart modernen Sklaventums und Lohndumpings von allen Einengungen befreite) immer gewesen, aber auch immer einer dieser "Ruhrgebiets-Realos", die Nordrhein-Westfalen jahrzehntelang nach dem Motto regiert hätten, dass man sich für Ideologie nichts kaufen könne.

Clement hat sich wie sein früherer Chef im Bundeskanzleramt für seine Ideologie doch einiges gekauft; jedenfalls mangelt es ihm nicht an Kohle, dem "Ruhrgebiets-Realo" und willfährigem Vollstrecker von Schröders unsozialer "Agenda-Politik", die die Interessen der arbeitenden und arbeiten wollenden Menschen skrupellos verraten hat. Jeden Tag lesen und hören wir in den Nachrichten, dass hier 50.000 Leiharbeiter und dort 5000 entlassen werden, das heißt, sie werden rausgeschmissen und der sozialdemokratischen Errungenschaft von HARTZ IV überantwortet.

HARTZ IV ist kein Werk des Saarländers Peter Hartz; der hatte gerade Zeit, zwischen seinen Vergnügungen mit gekauften schönen jungen Frauen Wahlkampfpropaganda für seinen Duzfreund Schröder zu machen. Das nötige Kleingeld holte er sich von seinem Arbeitgeber  VW.  Das Fördern und Fordern war eine Idee des Unternehmerberaters McKinsey; sein Stab machte für viel Geld die Arbeit, mit der die Sozialdemokraten ihre Herrschaft mit den Grünen zusammen um drei Jahre verlängerten. Was den Menschen verheimlicht wird, ist, dass von diesem Erzfreund des Kapitalismus seine sozialdemokratischen Auftraggeber darauf eingestimmt wurden: ihr müsst sie jagen, die arbeitslosen Faulenzer, und so werden seither die HARTZ IV-Empfänger behandelt.

Clement wird aus der Partei der Schröder-SPD, die sie geblieben ist, nicht ausgeschlossen werden. Die Wette gilt. Die Schröderianer werden das verhindern, wie viele  weitere Mitglieder und Wähler sich von der SPD auch abwenden werden.

Robert Birnbaum kann sich die Hände reiben. "Ob diese Jahrzehnte (seiner SPD-Mitgliedschaft) mehr zählen als zwei provokante Absätze in einem Aufsatz", müsse das Schiedsgericht entscheiden.
Natürlich kommt es auf Clements Gesinnung nicht an. Er hat keine.  Der Mann ist Realist. Wes Brot ich ess’, des Lied  ich sing. Solche Leute  reden heute so und morgen so, die Fahne stets im Wind.

 

 

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